Das Haus. Ich höre ihm zu, wenn seine Dielen knarzen. Denn dann erzählt es Geschichten. Wie die vom Nachbarn, der eines Nachts eine Packung Silvesterknaller zündete und in seinen Garten schmiss. Einer Wildschweinfamilie wollte er auf diese Weise unmissverständlich klar machen, dass sie ihre dreckigen Nasen nicht in seinen Kartoffelacker zu stecken haben. Die sind vielleicht gerannt! Da denkt das Haus dran und knarzt vor Freude. Ein anderes Mal knarzt es weil der Wind weht, manchmal einfach so. Allein der Gedanke an Bewegung reicht oft schon aus. Wie jemand, der mal laut ausatmen muss. Deshalb habe ich es „Knarz“ getauft. Das Haus findet das nicht witzig und lässt mich dafür vier mal mit Anlauf gegen den Balken über der Küchentür laufen. Dummmmm. Jedes Mal die Hälfte vom Kaffee auf dem Boden, statt in der Tasse. Mein Kopf eine einzige Beule. Knarz knarzt zufrieden. Dem, dem es gehört, ist das unangenehm. Er will die Tür an der Stelle extra dick und extra weich polstern. Mein Kopf und ich, wir unterstützen das, denn das Haus muss geschmeidig sein. Für den, dem es gehört, ist das existenziell. Und auch dessen Geschichte erzählt mir Knarz.
Ende und Anfang
Der, dem das Haus gehört, heißt Codrin. Der lebte nicht immer hier. Das Haus war nicht immer seines. Das ist es jetzt nur, weil Codrin auf der Suche war. Nach etwas. Weil ihm unbehaglich war. Er nicht mehr so richtig einverstanden sein wollte, mit dem Leben, das er führte. Dann las er im Internet ein Interview mit Bronnie Ware, der Autorin des Buches „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bedauern“ und das hat etwas mit ihm gemacht. Hat etwas in ihm verändert, so sehr, dass er hinschmiss und auf einen Zug aufsprang. Nächster Halt: Neues Leben. Da ist er ausgestiegen. Denn Codrin wollte nichts bedauern und nichts bereuen. Von einem Tag auf den anderen hat er die Kündigung geschrieben. Drei Monate später: Adieu Frankreich, adieu multinationaler Konzern, adieu Stelle als Controller. Er ging zurück nach Rumänien, um in seinem Heimatland einen Traum zu verwirklichen. Seinen Traum vom Sein.
„Auch wenn der Ausgang immer ungewiss ist, du wirst niemals bereuen, es versucht zu haben, auch wenn du vielleicht scheiterst. Aber du wirst es ziemlich sicher bereuen, wenn du dir niemals selbst eine Chance gegeben hast, glücklich zu sein.“ (Codrin)
Also fuhr er herum, in seinem Land und suchte. Nach Orten und Häusern. Die ursprüngliche Idee, ein Domizil für digitale Nomaden, starb recht schnell, weil er nicht das Passende fand, das er mit seinem Budget hätte umsetzen können. Dann eben anders. Für andere Leute, die einfach Urlaub machen und runter kommen wollen. Findet so einen Ort, der Codrin und kauft das Stück Land im Apuseni-Gebirge in Westrumänien. In der Natur, der Abgeschiedenheit, oben auf einem Berg. So ziemlich mitten im Nichts. Umgeben von Pflaumen- und Walnussbäumen, Blumen, Wiesen und Wald, steht auf diesem Land auch ein Haus. Dieses Haus. Das, was von ihm übrig ist. Ein windschiefes Ding, halb zerfallen, mit Müll drin. Aber der Codrin hat eine Vision. Er sieht etwas in diesem hundertjährigen Haufen aus Holz und Steinen drunter und legt los, mit tatkräftiger Unterstützung von Freunden. Und baut und hämmert und malt es an.
Zweifeln ja, aufgeben niemals und bereuen erst recht nicht
Ein beschwerliches Unterfangen ist dieses neue Leben. Keine Straße, nur ein Weg führt hinauf. Mit tiefen Rinnen, kurvig, holprig. Der Geländewagen ist da, aber der kann auch nicht hexen. Baumaterialien, Bretter und der ganze Kram. Zu viel, zu lang zu sperrig. Da muss der Nachbar ran. Er spannt seine Ochsen vor den Karren und erledigt, was Mensch und Jeep nicht schaffen. So ist das hier, in diesem Rumänien. Und auch hier dauert alles länger, als gedacht. Aber der Codrin gibt nicht auf. Er will ja was verwirklichen.
„Bereut habe ich es nie. Zweifel hatte ich oft. Ob es funktionieren würde oder nicht. Aber seit ich diesen Schritt gewagt habe und hier lebe, stehe ich jeden Morgen auf und bin glücklich.“ (Codrin)
Nach 1,5 Jahren ist es fertig und jetzt steht da was. Sein Traum, sein Carpathian Cottage. Es ist Juli 2015, als die ersten Gäste kommen dürfen. So wie wir, ein knappes Jahr später. Uns gefällt, was wir sehen. Jeder Winkel, jeder Zentimeter im Haus ist durchdacht. Alles selbst zurecht gezimmert. Mit fleißigen rechten und linken Händen. Da war Sachverstand am Werk. Das Alte wurde erhalten und zu einem liebenswerten Ort umgebaut. Jedes Detail stimmt. Auch sonst muss man nichts vermissen. Sechs Schlafplätze gibt es hier. Für Menschen, die dringend raus müssen, aus ihrem Alltag. Hier können die das. Ruhe finden, atmen, sich frei fühlen.
Willkommen in Codrins Traum
Stundenlang sitzen wir vor Codrins Haus und werfen Blicke in die Landschaft. Die glotzt dann ganz verliebt zurück. Wir schauen zu, wie der Tag vergeht. Sonne hoch, Sonne runter. Schönstes Licht, Berge, Himmel, Wolken. Ein Windhauch macht, dass das Gras sich wiegt und die Blätter rascheln. Sanft und leise. Fühlt sich gut an. Ganz leicht wird einem hier. Alles fällt ab, verschwindet, löst sich auf. In Wohlgefallen. Die Gedanken haben Ausgang und flattern irgendwo herum zwischen oben und unten, Himmel und Wald. Es ist so still. Man hört ihre Flügel schlagen. Bald weiß man schon nicht mehr, in welcher Zeit man eigentlich lebt. Ist auch egal, denn das interessiert niemanden. Alles anonym. Die Tage hier wollen nichts nehmen, nur geben. Dich morgens mit einem Kuss auf die Stirn wecken. Dir einen Kaffee draußen auf die Welt stellen. Den Rest überlassen sie dir. Sitzen. Liegen. Lesen. Wandern. Sterne gucken. Feuer machen und darauf Essen zubereiten oder auch nicht. Grashüpfer fangen. Hund streicheln. Grashüpfer streicheln. Hund fangen. Verliebt glotzen. Schnaps trinken und noch einen. Gehört sich so. Auf den Alltag anstoßen, der hier so anders ist, so gut zu einem. An einem Ort, wo man Träume auf einem Traum bauen kann. Und der Codrin sitzt daneben und freut sich, obwohl er neue Verpflichtungen und Aufgaben hat und an manchen Tagen mehr arbeitet, als in seinem alten Leben. Aber es erfüllt ihn und macht ihn glücklich, weil er seinen Traum mit anderen teilen kann.
„Und das ist meine Geschichte. Es ist (noch) keine Erfolgsstory. Alles steht noch am Anfang, ist hart und ich verdiene noch nicht genug, um gut davon leben zu können. Aber es ist die Geschichte meines Versuchs, ein besseres, glücklicheres Leben zu finden.“ (Codrin)
Mulțumesc, Codrin! Für die schönen Tage, die wir bei dir verbringen konnten und dafür, dass du uns deine Geschichte noch einmal ganz ausführlich erzählt hast.
Du willst da auch mal hin?
Dann findest du das Carpathian Cottage in der westrumänischen Ortschaft Păuleşti, das zur Gemeinde Bulzestii de Sus gehört. Codrin freut sich ganzjährig über Gäste und spricht Rumänisch, Französisch und Englisch. Wenn du magst, macht Codrin Ausflüge mit dir und tut auch sonst wirklich alles, damit du dich wohlfühlst. Bei Bedarf schafft er auch Eier, Gemüse und sogar Fleisch von den Nachbarn ran. :) Weitere Infos und Fotos vom Haus so wie es jetzt ist und auch von seiner Renovierung findest du auf der Carpathian Cottage Website.
Fotocredits: Letztes Bild vor „Willkommen in Codrins Traum“ sowie die letzten beiden Bilder und das mit dem Brot im Topf in diesem Abschnitt © Matthias Zwanzig
Du hast Lust auf noch mehr Rumänien? Dann lerne auch noch Maria und Ileana kennen und lies meine Kurzgeschichten. Folge mir außerdem auf Facebook, Twitter oder Instagram, denn ich habe noch längst nicht alles über Rumänien erzählt und weitere Berichte werden folgen.
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18 Comments
Liebe Lu, vielleicht bist Du doch bei einem orientalischen Märchenerzähler in die Schule gegangen? Aus nicht zu viel Fakten ein schönes Bild entworfen von einem Landstrich, den viele nicht kennen werden. Ich höre förmlich das Haus knarzen und Deinen Kopf brummen, spüre, wie das Gras sich wiegt, die Gedanken flattern und spüre den Alltag, der gut zu einem ist. Ein schönes Beispiel, wie wenig es braucht, um seinen Frieden zu finden, mit der Natur im Einklang zu leben. Beeil Dich mit den nächsten Folgen, ich bin gespannt…!
Mit liebem Gruß
Lenke
Liebe Lenke,
hab vielen Dank! Und: ich beeile mich. Versprochen!
Liebst Lu
Liebe Lu, ich weiß nicht, was diese Geschichte mit mir gemacht hat, aber ich habe Tränen in den Augen. Deine Worte berühren und erhellen. Eine wundervolle Geschichte und wunderschöne Bilder. Mein Blick auf ein Land, das ich nicht kannte, hat sich verändert. Vielen Dank hierfür. Ich hoffe auf mehr so wunderschöne Worte – ganz bald.
Liebe Grüße, Hija
Liebe Hija,
vielen Dank für deinen Kommentar! Ich hoffe sehr, dass die Tränen inzwischen getrocknet sind. Ganz bald schon wird es lustige Kurzespisoden geben. :)
Liebe Grüße
Lu
Eine wunderschön erzählte Geschichte. Ich bewundere Menschen, die ihren eigenen Weg gehen und so glücklich damit sind. Ich wusste bis eben nicht, wie dringend ich nach Rumänien möchte…
Liebe Grüße,
Lynn
Hey Lynn,
ich musste gerade etwas schmunzeln. :) Dringend nach Rumänien zu möchten, ist ein berechtigter Wunsch. Eine Anlaufstelle hättest du ja nun auch schon. Mir hat es dort sehr gut gefallen, auch wenn es – gerade auf dem Land – wirklich ärmlich zugeht. Rumänien ist trotzdem oder gerade deshalb eine Reise wert! Den Mut bewundere das auch. Ich hoffe sehr, dass auch in Zukunft alles so aufgeht, wie er sich das vorgestellt hat.
Liebe Grüße
Lu
Wundervolle Geschichte und ein Mann, dem ich alles Glück dieser Welt wünsche. Aber der macht das schon, der Codrin…
Hallo Beatrice,
vielen Dank! Ich drück ihm auch ganz feste die Daumen. Aber wie du schon sagst, der Codrin macht das schon. :)
Liebe Grüße!
Lu
Eine Geschichte, die das Leben schreibt, das Leben von Codrin.
Liebe Lu, ich konnte mir beim lesen der Geschichte und den von dir erlebten Tagen in dieser wunderbaren Umgebung alles bildhaft vorstellen, es hätte nicht besser beschrieben werden können.
Freue mich auf die Fortsetzung.
Grüße von Regine
Liebe Regine,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich bin schon fleißig am Tippen und bald geht´s hier weiter mit Geschichten aus Rumänien.
Ganz liebe Grüße
Lu
Was für eine wunderbare Geschichte, hat mich sehr berührt. Ich denke, von Codrin kann ich viel lernen. Und so ein schönes Stückchen Erde.
Liebe Grüße, Ines
Vielen Dank, liebe Ines. Das ist wirklich ein sehr schönes Fleckchen. Fahr doch auch mal hin! LG Lu
Hey Lu,
ich bin auf deinen wunderbaren Blog erst gerade eben gestoßen und habe mich direkt aus mehreren Gründen in diese Seite verliebt.
1. deine Selbstbeschreibung ist herrlich und ich fühle mich direkt, als würden wir Freunde sein. Denn ganz ehrlich: Schokolade und Masking Tape – wie könnte man das nicht lieben?
2. Wir wohnen in der gleichen Stadt – da ist meine Reaktion, wie die des Publikums, wenn eine Band beim Konzert ruft „Berlin, are you ready?“ – also „yeahhhhh“
3. deine Art zu Schreiben finde ich köstlich und die Fotos sind auch großes Kino
4. dieser Artikel hier. Rumänien steht noch auf meiner Liste und ich hatte über eine Wanderung nachgedacht. Du hast so nett über Codrin geschrieben, dass ich mir seine süße Unterkunft direkt speichern werde. Und sollten mich meine kribbeligen Füße nächstes Jahr nach Rumänien tragen, dann werde ich auf jeden Fall auch den Stopp bei Codrin einplanen.
Ich werde jetzt also häufiger auf deinem Blog vorbeischauen, weiter so!
Liebe Grüße
Nicole vom Reiselog CicoBerlin
Hallo liebe Nicole,
jetzt wird es echt mal Zeit, auf deinen langen Kommentar zu antworten, über den ich mich sehr gefreut habe. Toll, dass du hier bei mir gelandet bist und umso schöner, dass es dir auch gefällt. :) Vielleicht sollten wir uns mal auf ne Tafel Schokolade treffen?! Falls du wirklich nach Rumänien fährst im nächsten Jahr, dann schau unbedingt bei Codrin vorbei. Der freut sich garantiert. Du solltest aber auch unbedingt in die Region Maramures fahren und dort wandern gehen. Die Landschaft ist zum Verlieben schön!
Liebe Grüße
Lu
Ich fühle mich, als wenn ich aus einem Tagtraum erwacht wäre. Dein Text hat mich verzaubert und für kurze Zeit in ein fernes Land entführt. Rumänien löst in mir eine unerklärliche Sehnsucht aus, der ich dieses Jahr endlich nachgeben muss.
Danke für deine Wort.
Claudia
Liebe Claudia,
das freut mich sehr. Der Sehnsucht solltest du unbedingt nachgeben! Es lohnt sich.
Liebe Grüße
Lu
Herrliche Bilder! Vielen Dank für den Tipp :)
[…] Haus namens Knarz in Rumänien ist die Kulisse für die Geschichte über Codrin, der seinen lukrativen Job in Frankreich vom einen auf den anderen Tag hinsc…, um in seiner alten Heimat etwas mit Sinn zu tun. Es ist auch die Kulisse für den Urlaub von […]