Riesengebirge: Chronologie eines Wandertages

30. September 2019

Der erste von drei Wandertagen im Riesengebirge und der härteste von allen. Er bringt sämtliche Zustände zum Vorschein, in denen sich Geist und Körper befinden können – vom großen Glücksanfall bis hin zu unerträglichen Ganzkörperschmerzen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich am nächsten Morgen wieder aufstehen und weiterlaufen kann. Was für ein Tag. Anstrengend wie nur was, aber auch unvergesslich schön.

Kurz vor 8:00 Uhr: Ist denn schon wieder Frühling?

Während es gestern bei unserer Ankunft in der polnischen Kleinstadt Szklarska Poręba (Schreiberhau) wie verrückt regnete, sieht die Welt heute schon ganz anders aus. Die Sonne streckt ihre Strahlen in unser Zimmer, ich höre Vögel zwitschern. Von hier aus – was noch unter der Bettdecke ist – fühlt sich das so gar nicht nach einem Jahr an, das schon im Oktober angekommen und damit fast am Ende ist. Ganz im Gegenteil. Gerade ist mir eher so nach Frühling. Ich freue mich, weil wir ein paar Tage frei haben und zum Wandern im Riesengebirge sind. Deshalb springe ich aus den Federn, um dem Ganzen da draußen möglichst schnell auf die Pelle zu rücken.

Kurz nach 8:00 Uhr: Die Leute schauen schon

Wir suchen uns den gemütlichsten Platz im Frühstücksraum. Setzen uns so, dass wir die Welt und den Baum vorm Fenster im Blick haben. Ein Kleiber-Pärchen hopst da draußen herum. Tolle Vögel sind das, weil sie kopfüber einen Stamm hinunterlaufen können. Genau das machen die beiden. Hoch und wieder runter, hin und her. Als sie wegfliegen, absorbiert das Spiegelei auf meinem Teller meine ganze Aufmerksamkeit. Die Leute schauen schon, sagt der Mann. Mir egal, ich muss das hier noch kurz zu Ende dekorieren, sage ich.

Spiegelei beim Frühstück

10:30 Uhr: Es geht los

Wo die ganze Zeit geblieben ist, weiß ich nicht so genau, aber wir starten erst jetzt zu unserer Wanderung. Temperaturen zwischen 2 und 14 Grad sind für heute angesagt. Im Schatten bewegen wir uns vermutlich im mittleren Bereich der Skala und der Wind ist ein mieser, dafür aber sehr anhänglicher Zeitgenosse. Ich hoffe darauf, dass ich die Kälte, die ihm und somit auch mir am Rockzipfel hängt, durch die anstehende Bewegung abschütteln kann.

Vom Hotel aus ist es nicht weit bis in den Wald, in dem direkt unser Wanderweg beginnt. Besonders lange sind wir noch nicht unterwegs, als sich meine Wirbelsäule meldet und der rechte Oberschenkel merkwürdige Signale sendet. Jetzt schon? Ist das der Ernst? Das kann ja heiter werden, denn der ganze Spaß liegt ja noch vor uns. Ich bin etwas skeptisch, ob wir die Höhenmeter und Strecke schaffen werden, die wir uns vorgenommen haben.

Nationalpark Riesengebirge

11:30 Uhr: So ein Wald ist eine richtig gute Sache

Nach etwa einer Stunde Marsch, teilweise über recht große Steine – fast schon Felsen – kommen wir am Eingang des Karkonosze-Nationalparks an. Wobei Eingang übertrieben ist: Da steht ein Schild am Wegrand, das die Grenze markiert und um Bezahlung von 8 Zloty pro Person für eine Tageskarte bittet. Ein Betrag, der nicht der Rede wert ist, aber die Zahlungsmethode per QR-Code lässt uns etwas ratlos herumstehen.

Und weil das mit dem Bezahlen auf diese Art gerade nicht funktioniert, lassen wir das Schild und eine kleine Portion schlechten Gewissens zurück und schnaufen weiter den Berg hinauf. Dabei wird der Kopf plötzlich frei und ist auf Empfang. Mir fällt mit voller Wucht wieder auf, dass so ein Wald eine richtig gute Sache ist. Diese frische Luft, die nach ganz wunderbaren Dingen duftet. Nach Bäumen, Pflanzen und feuchter Erde. Ich atme alles weg und freue mich über Fliegenpilze, die für uns Spalier stehen.

Vor lauter Reizüberflutung geben auch ganz sang- und klanglos meine Schmerzen auf und sind plötzlich verschwunden. Dann kann es jetzt ja richtig losgehen. Zum Glück ahne ich nicht, dass es später am Tag wieder schlimm werden wird. Und zwar richtig schlimm.

Wandern im Riesengebirge: Alte Schlesische Baude

12:15 Uhr: Gar nicht mal so gute Stimmung in der Alten Schlesischen Baude

Nach nicht ganz zwei Stunden erreichen wir die Alte Schlesische Baude. Drinnen gibt es zwei Gasträume. Der erste ist etwas kleiner und die Stühle hängen noch kopfüber von den Tischen. Im größeren befindet sich die Bar. Es ist dunkel und etwas frisch. Ein paar Wanderer sind wie Perlen auf einer Kette aufgereiht, sitzen entlang der Wand und essen ihre Schnittchen. Dazu schlürfen sie Heißgetränke aus Thermoskannen oder von der Bar, an der es auch Snacks und warme Speisen gibt. Die Stimmung könnte deutlich besser sein. Und ich frage mich, ob die nicht durch den schönen Wald gelaufen sind. Anders kann ich mir die Kacklaune nicht erklären, die sich hier breit gemacht hat.

Vielleicht liegt es ja am Personal, das speziell ist. Wir stehen längere Zeit am Tresen, aber keiner kommt. Auch das zaghafte Gebimmel an einem kleinen Glöckchen hat keinen Effekt. Die Beine in den schwarzen Leggins, die ich in einem Raum hinter der Bar sehe, bewegen sich keinen Millimeter. Die dazugehörigen Hände wischen weiter auf einem Smartphone herum. Mir ist es unangenehm, schon wieder die Glocke zu betätigen. Wahrscheinlich beobachten uns die Stullenmenschen schon. Aber es nützt nichts: Kaffee muss her und da kenne ich weder Freund noch Feind.

Der ignorante Unterkörper erhebt sich und verschwindet, dann kommt ein älterer Herr mit einer kleinen Lampe an der Stirn um die Ecke geschlurft. Kurz danach tauchen auch die Beine mit den Leggings auf. Sie gehören einem jungen Mädchen, mit langen, platinblonden Haaren, die zu Rastazöpfen verwuschelt sind. Und sie hat auf das alles hier keine Lust. Also so richtig keine Lust. So wie ich an einem Montagmorgen wenn ich nicht frei habe. Ei, ei, ei. Wie gut, dass sie nur das Geschirr wegräumen muss. An dem perlt die Lustlosigkeit sichtbar ab.

Auch der Alte ist der reinste Quell an Lebensfreude, während er unsere Bestellung annimmt. Ich breche mir übelst einen ab, um meinen Kaffee in einer Sprache zu erbitten, die ich mir als polnisch vorstelle. Anderswo werden solche Bemühungen ja manchmal gewürdigt. Hier ist das nicht so. Kaffee gibt es trotzdem und ich trage ihn weg von diesen Stimmungen und Launen, die dunkler sind, als der Raum selbst.

Riesengebirge: Blick auf die Alte Schlesische Baude und Umgebung

13:00 Uhr: Schnee von gestern

Draußen geht es schon viel besser. Da ist es hell und die Sonne scheint. Auf dem Weg, der uns nach dem Päuschen weiter den Berg hinauf führt, liegt noch ein bisschen Schnee von gestern herum. Daran berauschen wir uns und auch an der fabelhaften Aussicht. In Berlin kann ich nie so weit und erst recht nicht auf so schöne Dinge gucken. Deshalb mache ich das hier sehr ausgiebig. Obwohl ich ständig stehen bleiben und schauen muss, kommen wir irgendwann oben auf dem Kamm an, wo die Grenze zwischen Polen und Tschechien verläuft. Unbewacht und unbehelligt hüpfe ich zwischen den beiden Ländern hin und her (Wie wunderbar, dass das möglich ist!), unser nächstes Ziel, die Schneegruben Baude, fest im Blick.

Wandern im Riesengebirge

Heide im Riesengebirge

14:00 Uhr: Schöne Aussichten

Die Ursprünge der Schneegruben Baude gehen auf 1835 zurück. Damals, als der Tourismus im Riesengebirge begann, wurde hier die erste Jugendherberge gegründet. Das heutige Gebäude ist als Fernseh- und Rundfunksender nicht mehr öffentlich zugänglich und deshalb auch nicht sonderlich spannend für uns. Aber die Schneegruben, von denen der Name des Gebäudes stammt, schon. Sie sind so genannte Kare, also Kessel, die von sehr kurzen Gletschern ausgeschürft wurden. Bei Wikipedia heißt es, dass sie ein einzigartiges Beispiel für die alpine Prägung der Landschaft des Mittelgebirges sind. Auch wenn man sich für solche Details nicht sonderlich interessieren mag, die Aussicht auf die Berge, die beiden Schneeteiche und das weite Land ist nicht zu verachten. Und sowas zieht ja immer.

Schneegruben und Schneeteiche im Riesengebirge

14:30 Uhr: Starker Glücksbefall auf dem Weg zur Elbquelle

Als wir uns wenig später auf den Weg zur Elbquelle machen, springt es mich plötzlich wieder von hinten an – das Glück. Von vorn macht es sich als sehr breites Grinsen in meinem Gesicht breit und geht für eine ganze Weile nicht mehr weg. Wird eher noch stärker, weil mir das so bewusst wird. Weil ich das wahrnehme und begreife und dadurch noch glücklicher werde. Ins Glück hineinsteigern, das ist der Hammer. Jeder Mensch sollte das mindestens ein Mal am Tag haben. Der Befall muss ja nicht lange dauern. Wenigstens kurz, dafür hochgradig ansteckend. Sich so richtig derbe über etwas wirklich Gutes freuen für alle. Ich denke, die Welt würde sofort zu einem besseren Ort werden.

Wandern im Riesengebirge

Riesengebirge: Blick auf die Schneegruben Baude

In diesem Zustand kommen wir an der Elbquelle in Tschechien an. Etliche Schilder verraten uns, wo der Fluss überall durchfließt und es gibt eine Art Becken zu sehen, das mal ein Kultort war. Die Quelle selbst befindet sich aber gar nicht darin, sondern ein paar Meter weiter, recht unscheinbar auf einer Wiese, wo sie auf fast 1.400 Metern Höhe das Licht der Welt erblickt, sofort laufen lernt und sich auf den Weg bis in die Nordsee macht. Wissen wir ja. Es ist trotzdem irgendwie verrückt, was aus so einem unscheinbaren Rinnsal werden kann.

Für uns ist es Zeit, Richtung Sesselbahn zu gehen. Es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, aber von Weitem sehen wir schon die Gondeln. Der Gedanke, sich schön da reinzusetzen, in den Ort zu schweben, vielleicht kurz frisch machen und dann ganz gemütlich essen gehen, ist fragil wie eine Seifenblase. Sie platzt wenig später.

Elbquelle im Riesengebirge

Riesengebirge: In der Nähe der Elbquelle

Wanderweg im Riesengebirge

Riesengebirge: Blick auf die Reifträger Baude

Riesengebirge: Blick auf die Schneegruben Baude

16:28 Uhr: Stillstand ist der Tod der Aktion

Als wir an der Bahnstation ankommen, bewegt sich da nichts mehr. Keinen Millimeter. Wir hören noch wie die Tür eines Pick-ups zugeschlagen wird, ein Motor startet und der Mensch, der die Anlage höchst wahrscheinlich bedient, in seinen Feierabend abrauscht. Uns Großstadtmenschen wird dabei schmerzhaft bewusst, dass Personenbeförderung nahezu rund um die Uhr kein festgeschriebenes Gesetz ist. Ganz wunderbar.

Der letzte Lift fuhr um 16 Uhr. Auf so etwas wird man an der Talstation hingewiesen, wenn man ihn auch nach oben nutzt. Das stellen wir in den nächsten beiden Tagen fest. Geht man allerdings zu Fuß und ohne Plan, hat man direkt die Arschkarte. So wie wir jetzt. Als hätten sechs Stunden Wanderung nicht schon gereicht, müssen wir nun zu Fuß zurück ins Tal.

Weitere 2,5 Stunden werden wir laufen. In Worten: zweieinhalb Stunden! Auf hässlichem Untergrund, der steil ist und mal so richtig in die Gelenke und Knochen und auch in den Kopf geht. Hätte ich es gewusst, hätte ich mich wahrscheinlich einfach in eine Hecke gerollt und dort ausgeharrt bis die Bahnen wieder fahren. So bewegen wir uns in sicherem Abstand voneinander hinab. Jeder schiebt einen ordentlichen Batzen aus Groll und Schmerzen vor sich her. Geflucht wird auch. Riesengebirge für Anfänger. Die Kursgebühren sind für meinem Geschmack unverschämt hoch.

Wanderweg im Riesengebirge

18:50 Uhr: Bier und Pirogen für zwei, Unfreundlichkeit für zehn

Kurz vor sieben stehen wir wieder im Zentrum von Schreiberhau. Ich kann nichts mehr. Meinen Namen weder sagen und erst recht nicht tanzen. Nicht laufen, nicht stehen, nicht denken. Dafür knurrt mich mein Magen an, als würde er notfalls mich persönlich fressen, sollte da nicht zeitnah irgendetwas anderes rein kommen. Neben müde, Durst, Pippi, zu kalt oder zu warm, ist das so ziemlich das Schlimmste, das passieren kann, wenn man mit mir unterwegs ist.

Der Mann ist zum Glück auch nur noch ein Haufen Elend und wir entscheiden uns zur Abwechslung relativ zügig für ein Restaurant. Die „Lukasmühle“ soll es sein und sie macht zumindest einen gemütlichen Eindruck. Mit dem Bier und den Pirogen wird aber auch wieder ein Schälchen Unfreundlickeit serviert. Was ist das nur? Finden Polen Touristen doof oder nur deutsche Touristen oder allgemein andere Menschen? Ich kann mir einfach keinen Reim drauf machen. Jedenfalls gehören Lebensfreude und Gastfreundlichkeit leider mal wieder nicht zum Programm. Das hat aber mit Schreiberhau nichts zu tun, sondern ist mir in diesem Land schon öfter aufgefallen. Es ist kein würdiger Abschluss für diesen Tag, wird mich aber auch in Zukunft nicht davon abhalten, wieder mach Polen zu kommen.

20:30 Uhr: Lauf ich noch oder schlaf ich schon?

Nach zehn Stunden auf den Beinen und tausenden Schritten falle ich im Hotel durch die Tür und schlafe quasi schon, bevor ich überhaupt richtig im Bett zum Liegen komme. Ich bin sowas von kaputt! Und trotzdem freue mich schon auf die nächsten beiden Tage im Riesengebirge.

Gut zu wissen:

Route: Der Wanderweg führt vom höher gelegenen Teil der Stadt Schreiberhau durch den Wald in den Karkonosze-Nationalpark bis zur Alten Schlesischen Baude und weiter zur Schneegruben Baude. Von da zur Elbquelle, später vorbei an einer Ansammlung von Granitfelsen, deren Namen ich leider nicht mehr auf dem Schirm habe. Der Abschluss könnte die Reifträger Baude sein, hinter der die Sesselbahn zurück nach Schreiberhau führt. Mit genügend Elan ist der Rückweg in die Stadt – wie bewiesen – aber auch zu Fuß möglich.
Dauer: 6 bzw. 8,5 Stunden
Einkehrmöglichkeiten: Alte Schlesische Baude, Reifträger Baude
Preise: Da wir zwangsläufig die ganze Strecke gelaufen sind, fielen an diesem Tag nur theoretische 8 Złoty (knapp 2 Euro) Gebühr für den Eintritt in den Nationalpark an, plus Käffchen in der Alten Schlesischen Baude. Die Sesselbahn von Schreiberhau zur Reifträger Baude und zurück kostet ansonsten insgesamt ca. 40 Złoty (9 Euro). One-way ins Tal dann ggf. nur die Hälfte. Aber wer weiß das schon. Ich leider nicht. Aus Gründen.
Die letzte Sesselbahn: Unter der Woche bis 16 Uhr; am Wochenende bis 17 Uhr – schreib dir das hinter die Ohren.

Mehr Infos zu unserem verlängerten Wochenende im Riesengebirge findest du hier.

Fotocredit: Bild mit mir drauf © Matthias Zwanzig

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