Eigentlich wollen wir nur mal kurz raus aus Berlin. Ich habe einen See ausgesucht, damit wir drumherum wandern können. Und Kraniche wollen wir sehen. Letzteres findet auch statt. Es sind viele, auf einem Feld. Anhalten und sie genauer unter die Lupe nehmen, geht wie so oft allerdings nicht. Also rauschen sie nur undeutlich und viel zu schnell an uns vorbei. Auch an besagtem See kommen wir nie an.
Schuld ist die Fahrt, die sich schon wieder viel zu lange zieht. Etwa 60 Minuten soll sie nur dauern. Nun sind es schon 1,5 Stunden, wegen eines Staus auf der Autobahn und jetzt noch diese Umleitung. Am Ziel sind wir noch lange nicht. Weitere 25 Kilometer liegen vor uns. Klingt nicht viel, braucht in Brandenburg aber auch seine Zeit. Dabei wollten wir doch nicht den ganzen Tag im Auto sitzen, sondern möglichst lange in der Natur sein. Alles was wir jetzt fahren, müssen wir ja auch wieder zurück. Der Geduldsfaden wird zum Ungeduldsfaden kurz vorm Riss.
Während ich mich frage, wie kompliziert so ein kleiner Ausflug ins Umland eigentlich werden kann, taucht vor uns ein Abzweig auf. Brodowin steht auf dem Schild. Das habe ich schon mal gehört. Wir beschließen, der Sache eine Chance zu geben, blinken und biegen ab. Rückblickend stellt sich das als ganz fabelhafte Entscheidung heraus und ich sag mal so: Danke Zufall!
Das Ökodorf Brodowin
Brodowin ist ein Ortsteil der Gemeinde Chorin und liegt im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in Brandenburg, ca. 70 Kilometer nordöstlich von Berlin. Etwa 450 Menschen leben hier, im „Dorf der sieben Seen“, wie Brodowin bezeichnet wird. Eigentlich sind es sogar noch mehr, denn vier weitere Seen liegen in unmittelbarer Umgebung. Das Dorf ist klein und weil es keine Durchgangsstraße gibt, hält sich der Verkehr in Grenzen. Deshalb geht es hier recht ruhig zu. Es fühlt sich perfekt an.
Brodowin ist heute vor allem als Ökodorf bekannt – eine Idee, die nach der Wende entstand. Die hier ansässige Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) wurde zum ersten großen Demeter-Betrieb in Europa und der Ökodorf Brodowin e.V. wurde gegründet. BIO-Produkte nach der Demeter-Landwirtschaft werden hier angebaut, auch Maßnahmen zum Umwelt- und Naturschutz werden umgesetzt. Zusätzlich hat sich Brodowin durch den Kirchensommer in der Stüler Kirche einen Namen gemacht.
Es beginnt im Glockenladen
Unweit der Kirche lassen wir das Auto am Rand der Dorfstraße stehen. Sie ist gesäumt von Herbstbäumen, die goldgelb in der Mittagssonne leuchten. Genau wie das Laub zu unseren Füßen, in dem dicke Kastanien liegen. Direkt neben uns ein Haus. Grau verputzt, eine Etage, symmetrisch von vorn, ganz unscheinbar. Direkt in der Mitte führen fünf Stufen zur Eingangstür. Rechts und links davon jeweils drei Fenster, mit grün gestrichenen Fensterläden. Über der Tür, die ebenfalls grün ist, ein Banner. Glockenladen steht darauf. Links neben der Treppe ist ein Windspiel aufgestellt, mit kleinen Vögeln aus Holz, ihre echten Schwanzfedern drehen sich mal nicht, mal wie wild – wenn der Wind weht. Zwischen den Vögeln hängen kleine Glocken.
Ein getigertes Kätzchen springt die Treppen herunter und kommt mutig auf uns zu, erzählt etwas, das wir nicht verstehen. Vielleicht heißt es so viel wie „Hallo, kommt doch rein“. Während es unter meiner Streichelhand zufrieden zu Brummen beginnt, taucht aus dem Haus eine Frau auf. Sie übersetzt das Miauen und fragt auch nochmal, ob wir uns vielleicht die Glocken im Laden anschauen möchten. Klar, warum nicht. Ein Raum wird aufgesperrt, ein paar Sachen hin und her geräumt. Sie entschuldigt sich – sind gerade dabei, sich zu sortieren.
Wie man darauf kommt, Glocken zu fertigen, möchte ich wissen. Naja, der Mann sei Musiker und braucht sie. Weil er aus einer Familie mit langer Gießertradition stammt, hat er angefangen, sie selbst herzustellen und auch zu verkaufen. In ein paar Regalen stehen sie aufgereiht vor uns. Goldene Glöckchen in unterschiedlichen Größen. Alle mit feinem Klang. Man kann sie gravieren lassen und zu Jubiläen, Hochzeiten oder Taufen verschenken. Einen Onlineshop soll es auch bald geben. Macht Sinn. Brodowin liegt ja doch recht abgeschieden.
Golden geht es weiter, als wir durch den Herbst wandern
Aber wir sind ja nicht hier, um Glöckchen zu schauen. Wandern ist doch das Anliegen. Deshalb wünschen wir uns gegenseitig einen schönen Tag und ziehen los. Der erste eingeschlagene Weg, stellt sich allerdings schnell als Sackgasse heraus. Auch keine Seltenheit, an Brandenburgs Seen. Zumindest geht es uns oft so, das wir an irgendeinem Schilfgürtel an die natürlichen Grenzen der Begehrlichkeit stoßen. Kein Rankommen. Nicht an dem kleinen und auch nicht an dem großen See daneben. Wir überlegen kurz, ob wir uns eines der Boote ausleihen sollen, die hier im Gestrüpp liegen. Stattdessen laufen wir den ganzen Weg wieder zurück zum Ortskern von Brodowin, wo so einige Schilder für Wanderungen bereitstehen. Da haben wir uns aber schon längst für eine entschieden.
Der Weg führt uns durch den Wald, dann wieder an Feldern entlang. Rechter Hand der Brodowinsee. Und überall der goldene Herbst. Steht und liegt vor uns. Immer wieder ist es, als würde es Goldstückchen schneien, wenn die Blätter vor uns herab schweben. So schön, dass man mal eben die Zeit anhalten möchte. Zumindest Zeitlupe wäre erstrebenswert. Wir rascheln durch das Laub des Waldes. Sonnenlicht fällt hier und da durch die Bäume. Nebelschwadenwesen. Welch fabelhafte Erscheinung.
Wieder weht der Wind. Nicht stark, nur ein bisschen. Dann wünsche ich mir einen Helm. Denn der Wind schüttelt an den Bäumen. Und dann geht es los: plopp, plopp, plopp. Eicheln im freien Fall. Stürzen hinab aufs Blätterdach, dann auf einzelne Blätter. Eins, zwo, drei hintereinander. Dann Holz. Ein Ast – abgeschlagen gegen einen Stamm, dann wieder Blätter. Bis der Weg frei ist Richtung Boden. Wie kleine Geschosse schlagen sie dumpf neben mir ein. Die ganze Zeit. Ein Wunder, dass mich nicht eine einzige trifft. Es würde sicher weh tun.
Gedanklich ziehen wir irgendwo ein
Irgendwann lassen wir den Wald hinter uns. Es geht wieder Richtung Dorf. Unterwegs flitzt eine kleine Schafherde mit flatternden Ohren vor uns über die Straße. Vor einem Haus bietet ein Stuhl Quitten und Äpfel zum Kauf feil. Wir stecken etwas Geld in das Kassenglas des Vertrauens und die Quitten verschwinden im Rucksack.
Ich schaue mir die Häuschen links und rechts der Straße an. Die sind ganz hübsch. Heimlich prüfen wir, ob irgendwo was frei ist. Ein ganzes Haus oder auch nur eine Wohnung. Obwohl wir doch gar nicht hier leben könnten. So weit ab vom Schuss. Aber der Gedanke ist schön. Die Ruhe hier für sich zu haben, zu diesem Dorf zu gehören. Dass wir auch einen dieser Vorgärten besitzen könnten. Einer, in dem so herrliche Herbstblumen blühen. Oder ein Birnbaum steht, wie bei dieser Frau, die mit dem Berg Früchten kämpft, den der Baum ihr geschenkt hat. Leider fragt sie uns nicht, ob wir sie um ein paar erleichtern möchten. Wir hätten es getan. Ganz selbstlos.
Auf einer Wiese sind ein paar Hühner unterwegs. Wir gackern, sie auch. Neugierig kommen sie zu uns, beobachten uns durch den Maschendrahtzaun. Wir beobachten zurück. Als hätte ich geahnt, dass es genau so sein soll. Denn nicht weit entfernt verweist ein Schild auf eine Praxis für therapeutisches Chicken Whatching, also Hühnergucken. Ich bin direkt Fan dieser Idee und möchte das unbedingt mal ausführlich in Anspruch nehmen. Vielleicht nicht mehr in diesem Jahr. Aber nächsten Sommer fänd ich gut.
Das Bedürfnis nach einer Pause macht sich breit. Ein Schild am Weg wirbt für Siegi’s Landhauspension & Stocki’s Hofladen. Leider geschlossen heute. Wie schade. Aber die Dorfstraße führt uns zur Kirche. Nicht weit von ihr entfernt, stehen die Türen des Gasthauses „Schwarzer Adler“ offen und wir setzen uns draußen auf die Terrasse. Von hier aus lässt sich das Dorf gut beobachten, wie es in der warmen, goldenen Nachmittagssonne schlummert. Hin und wieder kommen Fußgänger oder Fahrradfahrer vorbei. Viele sind es nicht, aber alle grüßen Ellen, eine nette ältere Frau, die den Schwarzen Adler betreibt und uns bedient. Die Saison ist fast vorbei, sagt sie, während sie jemandem zuwinkt. Ab dem Frühjahr ist hier wieder deutlich mehr los.
Einen kurzen Halt machen wir noch auf dem Feldweg, um Hagebutten zu räubern. Dabei wird mir wieder bewusst, wie wenig ich in der Stadt doch von der Natur mitbekomme. Hier blühen tatsächlich noch Pflanzen. An den Wegen der Klee und die Jungfer im Grünen, auf einem Feld der schöne gelbe Raps. Dahinter guckt die Dorfkirche von Brodowin raus. Zum Abschied fliegen Zugvögel über uns hinweg. Kraniche? Ich wünsche mir, dass es welche sind. Aber dafür sehen sie von hier unten zu pummelig aus. Gänse? Vielleicht. Ich kann nur tippen. Ist ja auch egal, denn schön ist es so oder so und auf den konkreten Vogel kommt es doch gar nicht an. Deshalb stehe ich da, Kopf im Nacken und lächle gen Himmel, bis sie nicht mehr zu sehen sind.
Auf dem Heimweg machen wir noch einen Stopp im Hofladen Brodowin. Wenigstens reinschauen, wenn man schon mal hier ist. Im hübschen kleinen Laden gibt es unter anderem Gemüse, Molkereiprodukte aus der Meierei nebenan, Eier, Öl, Honig oder Säfte aus eigener Produktion. Die Schlange ist lang, deshalb kaufen wir heute nichts. Vielleicht beim nächsten Mal. Ich würde nämlich gern wiederkommen. Aus all den Gründen da oben und auch, um hier im Sommer mal an einer Hofführung teilzunehmen.
Lust auf noch mehr Brandenburg? Dann dreh mit mir eine Runde um den Wolletzsee in der Uckermark oder komm mit auf eine Wanderung im Finowtal.
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