Haisafari oder warten auf Godot

17. Oktober 2013

Eigentlich ist Eddie dem Dienst am Touristen bereits vollumfänglich nachgekommen. Was unsere geschäftliche Beziehung betrifft, sind wir miteinander fertig. Dennoch haben wir uns schon wieder für den Nachmittag verabredet. Sensationen und Attraktionen warten auf uns, denn Schorcheln und Haie gucken stehen für heute auf dem Programm. Jawohl, Haie! In einer Tauchschule in Santa Maria sammeln wir das nötige Equipment ein. Ein kleiner Geländewagen wird schnell für knapp 50 Euro bei einem nahe gelegenen Hotel angemietet und soll uns an die Orte des Geschehens bringen. Wie auch bei den letzten Fahrten ist Anschnallen Geschmacks- und Geschwindigkeit Ermessenssache. Wir sind frei. Wir sind glücklich. Passend zur Musik, pfeift uns der Fahrtwind um die Nasen. Ein perfekter Sommersonnenurlaubstag.

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Nach einer Weile erreichen wir unsere erste Station und das Schnorcheln kann beginnen. Zumindest theoretisch. Es ist erst knapp ein Jahr her, dass ich in Kroatien zum ersten und zum letzten Mal Schnorcheln war. Bevor ich diese Aktivität in vollen Zügen genießen konnte, brauchte ich unzählige Versuche, verstreut über mehrere Tage. Oft saß ich heulend am Strand, weil ich unbedingt wollte, aber einfach nicht konnte. Kopf unter Wasser und dann atmen durch dieses seltsame Ding, die ganze Zeit meine Atemgeräusche im Ohr. Auf der einen Seite das offene Meer, auf der anderen spitze Klippen und keinen Boden unter den Füßen. In meiner Welt beschreibt das nicht gerade einen Idealzustand. Warum sollte ich mir das freiwillig antun? Wie interessant kann so ein Fisch unter Wasser schon sein? Auf einer Skala von 1 bis 10? Der Mann sagt 10. Er sagt auch, dass ich mich überwinden und es mir anschauen muss. Ich denke, ich muss gar nichts. Die Neugier sieht das anders. Schon bin ich im Wasser, schon ist das Wasser über mir. Und ich stelle fest, dass ich in diesem Paralleluniversum nicht allein bin. Schwerelos, gestreift, gepunktet, glitzernd, einzeln, in Schwärmen, Fische. Nah, näher, ganz nah dran. Ich beäuge sie, sie beäugen mich.

Hallo Fischfreunde. Ich hoffe, es macht euch nichts aus, dass ich gerade quer durch euer Wohnzimmer schwebe. Bin auch gleich wieder weg. Muss nur kurz warten, bis die Ausschüttung der Glückshormone beendet ist.

Selbst nach Verlassen des Wassers schwebe ich für den Rest des Tages einen Meter über dem Boden.

An dieses Gefühl erinnere ich mich und ich möchte den Zustand reproduzieren. Jetzt. Hier. Unmöglich. Ich bin bereits im Wasser. Stehe auf einem großen, rund gelutschten Stein. Besser gesagt, ich versuche es. Doch dank der Wellen kann ich mich kaum auf den Beinen halten und erst recht nicht Brille und Schnorchel vernünftig aufsetzen und schon gar nicht die Ruhe bewahren. Sie ist wieder da, die Panik. Ich schaffe es nicht. Und ich fasse es nicht. Wie kann es denn genetisch möglich sein, dass das Produkt der Kreuzung zweier Homo sapiens ein Angsthase ist? Jemand sollte die Fachpresse informieren.

Ich will wieder raus aus dem Wasser und gebe Eddie ein Zeichen, dass er nicht auf mich warten soll. Er und der Mann verschwinden. Nur manchmal sehe ich hier und da das Ende eines Schnorchels oder ein Stück Schwimmflosse über den Wellen aufblitzen. Während beide die Unterwasserwelt erkunden, nutze ich die Zeit, um etwas Strandgut zu sammeln und ausführlich über Genetik nachzudenken. Was für ein Mysterium. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen die beiden zurück und wollen ebenfalls das Wasser verlassen. Bei dem Mann geht das nicht ganz geräuschlos vor sich. Als er es endlich an den Strand geschafft hat, sehe ich auch warum. Die Klippen haben ihm die Schienbeine blutig gekratzt. Außerdem hat er mir eine handvoll Stachel vom Seeigel mitgebracht. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Aber nun sind sie einmal da. Leider kann er sie mir nicht alle überreichen. Zumindest einer von ihnen hat sich so tief in seinem Finger vergraben, dass er uns den ganzen Urlaub über begleiten wird. Auch eine Möglichkeit, mal ein bisschen rumzukommen.

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Das wollen wir heute auch noch und fahren weiter. Die staubige Straße entlang, bis wir zu einem Abzweig kommen, der von einem handgemalten Schild markiert wird. Sharks steht darauf geschrieben. Ein Pfeil weist den Weg. Wir folgen ihm und biegen ab. Der kleine Geländewagen trägt uns über eine unbefestigte Piste. Wenn der mal nicht auseinander fällt. Aber das tut er nicht und bringt uns stattdessen bis zu einem Riff. Im Meer ein Geisterschiff. Verrostet, in Schräglage und in der Mitte einfach zerbrochen. Seine bessere Hälfte ist ihm wohl abhanden gekommen, zwischen hier und irgendwo anders. Es wurde angespült wie Unmengen von Plastikmüll, der sich am Ufer sammelt. Teile von Fischernetzen, leere Flaschen und Kanister, die mal Bojen waren. Der Mensch ist ein Schwein. Erst vor einem halben Jahr hat die Armee hier alles sauber gemacht. Das lässt sich nicht mal mehr erahnen. Kopfschüttelnd lassen wir den Müll hinter uns.

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Nicht mehr lange und wir sind da. Wir stellen das Auto ab und laufen mit Flip Flops an den Füßen ins Meer, das an dieser Stelle ganz flach ist und sich wie ein riesiger Teppich vor uns ausgebreitet hat. Wir laufen und laufen, bis Eddie stoppt. Stehen, starren, staunen. Nicht weit von uns entfernt zappelt eine Minifinne durch die Wellen. Ein Babyhai. Unglaublich. Wir wollen mehr. Größere Finnen mit größeren Haien dran. Also verteilen wir uns und beziehen in einigem Abstand voneinander unsere Posten. Jetzt starrt jeder für sich. Warten auf Godot. Wie üblich kommt der aber nicht. Nach einer halben Ewigkeit geben wir auf und treten etwas enttäuscht den Rückzug nach Santa Maria an.

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Am nächsten Tag haben wir noch reichlich Zeit bis zu unserer Abreise. Angefixt vom Vortag wollen wir zu zweit ein weiteres Mal auf Haisafari gehen und fahren noch einmal zum Riff. Tatsächlich bekommen wir ein bisschen mehr zu sehen, allerdings ist das noch immer nichts im Vergleich zum Möglichen und Machbaren, wie wir später vor einer Touristeninformation von einem Foto erfahren.

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Kann das die Realität sein, die ich darauf sehe? Eine Horde Urlauber, die wie wir im Meer steht und um sie herum schwimmt nicht nur ein kleiner, sondern mindestens fünf, sechs, wenn nicht sogar sieben größere Haie. Ich rede mir ein, dass die Finnen auf dem Bild nur Teil einer Fotomontage sind. Das soll helfen, um den Verlust des nicht Erlebten zu überwinden. Aber wenn ich es mir recht überlege – so schlimm ist es eigentlich gar nicht. Ich wollte sowieso noch einmal her kommen. Schildkröten und Wale schauen. Dann muss ich mir eben auch noch ein bisschen Zeit für die Haie freischaufeln. Vielleicht kommt dann auch dieser Godot. Vielleicht gibt es dann auch schon entsprechende Ausflüge für Touristen: Waiting for Godot. Only 10 Euros. Und dann stehen neben denen, die auf die Haie warten, die, die auf Godot warten. Das Geld darf man eben nicht nur auf der Straße suchen. Manchmal lohnt sich auch ein Blick aufs Meer.

Möchtest du mehr über die Insel Sal erfahren? Dann komm mit zu einer Inselrundfahrt und lerne den Einheimischen Eddie kennen, mit dem wir eine unfassbar schöne Zeit verbracht haben. Hole dir auch meine „Tipps für deinen Urlaub auf den Kapverden“.

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